Wie steht es um den öffentlichen Nahverkehr in Deutschland?
von Jochen Reitstätter
Seit Jahren hinkt der Öffentliche Verkehr (ÖV) den Erwartungen hinterher. Die Verkehrsbedürfnisse einer mobilen und vernetzten Kundschaft werden gefühlt seit Aufkommen des Themas Klimawandel kaum besser erfüllt. Ein Hoffnungsschimmer für eine Wende im ÖV war 2022 das 9-Euro-Ticket, seit Mai 2023 gefolgt vom Deutschlandticket, das zumindest in der Basis-Variante einen fixen Preis und ein deutschlandweit einheitliches Verkehrsangebot eröffnet. Nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes stiegen die Fahrgastzahlen im öffentlichen Personennahverkehr 2022 drastisch an, im Schnitt um 29 Prozent gegenüber 2021. Als maßgebliche Gründe nennen die Statistiker die Lockerungen nach dem Corona-Jahr 2021, die große Zahl an Flüchtlingen sowie das 9-Euro-Ticket in den Monaten Juni bis August 2022.
Der Kampf um den Verkehrsraum nimmt zu, doch noch ist der Pkw-Verkehr zumindest optisch der dominante Faktor im Stadtverkehr.
Wirrwarr beim Deutschlandticket
Das 9-Euro-Ticket war damit die erste bedeutsame bundeseinheitliche Maßnahme der Politik, die Verkehrswende tatsächlich ein Stück voranzubringen. Und die bloßen Nutzerzahlen sprechen für die erste Variante dieses „Deutschlandtickets“ – dank einheitlichem Tarif und günstigem Preis. Das ermöglichte auch finanziell schlechter gestellten Menschen wieder Mobilität und mehr Teilhabe, wie beispielsweise Prof. Matthias Gather von der Fachhochschule Erfurt in einer Studie feststellte.
Der Deutsche Bahnkunden-Verband (DBV) hält den Nachfolger des 9-Euro-Tickets jedoch für zu wenig ambitioniert: „Zum Grundticket für 49 Euro gibt es mittlerweile unzählige Zusatztickets, einige Züge können trotz IC-Status genutzt werden, manche Regionalzüge dagegen nicht, und ein Direktkauf ist auch nicht möglich“, beklagt Ferdinand Fischer vom DBV in Sachsen.
Busse und Bahnen stehen bereits für eine nachhaltige Mobilität – laut dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen spart der Öffentliche Personennahverkehr rund 15 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr in Deutschland ein.
Eine Mobilitätsstation der LVB in Leipzig: Taxi, Tram, Leihfahrrad und E-Ladepunkt sind über die einheitliche Buchungs-App MOVE nutzbar – für mehr Flexibilität ohne Auto.
Ohne mehr Geld keine Verkehrswende
Dass es für einen besseren Öffentlichen Verkehr auch mehr Steuergeld bedarf, haben politische Entscheider mittlerweile erkannt. Der Freistaat Sachsen hat zum Beispiel die für den öffentlichen Verkehr vom Bund ausgereichten Regionalisierungsmittel durch eigene Mittel von 2016 bis 2022 von 36,9 Millionen Euro auf 175,5 Millionen Euro aufgestockt. Damit werden auch Maßnahmen wie das Bildungs- oder Azubiticket finanziert.
Denn Einigkeit herrscht bei Verkehrsexperten, dass ohne eine Verbesserung des Angebotes, zum Beispiel mit einer besseren Taktung gerade in Tagesrandlagen oder mehr On-demand-Angebote in nicht angebundenen Räumen, ein Umdenken kaum stattfinden wird. Bei gleichzeitiger Verteuerung der Autonutzung in den Innenstädten.
„Auch die Dienstwagenregelung, die Pendlerpauschale, die Kosten des Parkens in der Innenstadt und der Rückbau viel toter Stadtfläche als Parkraum sind wichtige Einflussfaktoren für die Verkehrswende“, so Eike Arnold vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).
Idee: Kfz-Steuer, die prozentual mit gefahrenen Kilometern steigt
Verkehrsforscher Daniel Herfurth von der Universität Konstanz plädiert zum Beispiel für eine Änderung der CO2-Besteuerung auf Kraftstoffe durch eine fahrleistungsbezogene Kfz-Steuer. „Es besteht der Fehlanreiz, selbst bei gegebenen Alternativen das Auto zu nutzen, weil die Fixkosten des Kfz durchschlagen“, also sowieso da seien, so Herfurth. Mit einer Abgabe, die prozentual ansteigt, je mehr Kilometer gefahren werden, würde sich der Umstieg auf Verkehrsmittel des Umweltverbundes wieder lohnen.
„Es besteht der Fehlanreiz, selbst bei gegebenen Alternativen das Auto zu nutzen, weil die Fixkosten des Kfz durchschlagen.“
Daniel Herfurth, Verkehrsforscher der Universität Konstanz
Lösungsansätze: Vernetzung und Bündelung
Marc Backhaus, Pressesprecher der Leipziger Verkehrsbetriebe, sieht das Miteinander und die Vernetzung verschiedener Verkehrsträger als Weg für die urbane Mobilität der Zukunft. „In den Mobilitätsstationen der LVB, die bereits seit 2015 entstanden, werden verschiedene Verkehrsträger des Umweltverbundes miteinander verbunden, also an einem Ort beispielsweise eine Tramstation, Bushaltestelle, BikeSharing-Angebote oder ein Taxistand“, erklärt der LVB-Sprecher. „Heutzutage gehören zu den Mobilitätsstationen auch E-Scooter und Lademöglichkeiten für E-Autos sowie Car-Sharing Angebote, die über unsere digitale Plattform MOVE gebucht werden können.“
Der Bürgerbus – Von der Haustüre zum Arzt oder Friseur
Der Bürgerbus in Arzberg: ein Stück Freiheit und Mobilität ab der eigenen Haustüre.
Das Bürgerbus-Modell ergänzt den ÖPNV in einem gebietsarmen Raum und bietet individuelle Fahrten ohne festen Fahrplan. Es richtet sich an nicht, nicht mehr oder noch nicht mobile Einwohner von Arzberg.
Die Fahrgäste zahlen eine freiwillige Mitfahrpauschale, und das Projekt wird seit sechs Jahren durch den Landkreis Nordsachsen, die Gemeinde Arzberg und den Ostelbien-Verein finanziert. Das ehrenamtliche Bürgerbus-Team besteht aus 15 Mitgliedern, darunter Fahrer und Servicedienstmitarbeiterinnen.
Die Stabilität und Verlässlichkeit des Modells werden durch Gesundheitsuntersuchungen und Ausbildung der Fahrer gewährleistet. Obwohl es eine konstante Personalbesetzung gibt, werden ständig neue Fahrer geworben. Im Vorjahr legte der Bürgerbus 18.635 Kilometer zurück und beförderte 728 Passagiere.
Lesen Sie das Interview mit Holger Reinboth, Bürgermeister von Arzberg.
Das Beste aus Autoverkehr und öffentlichem Verkehr verbinden
Fahrgastvertreter plädieren ebenfalls für ein sinnvolles Miteinander der Verkehrsarten – jedoch mit Vorrang für Bus, Bahn, Fahrrad und Fußverkehr. „Park+Ride ist ein gutes Beispiel, das Beste aus beiden Welten zu verbinden“, befindet Lukas Iffländer, Sprecher des Fahrgastverbandes Pro Bahn in Sachsen. „Dort, wo ÖV und Autos sich eine Spur teilen, können intelligente Schaltungen sicherstellen, dass der Verkehrsfluss in der gesamten Stadt dynamisch überwacht und geregelt wird.“
Ergebnis: In Leipzig ist man schon jetzt bei 60 Prozent Anteil des Umweltverbundes, also Fuß, Rad und ÖV.
Die Marktanteile der Verkehrsträger zeigen die Dominanz des Privat-Pkws
Anteil der Wege nach Verkehrsmitteln in Prozent
Pro Person und Tag werden 3,15 Wege zurückgelegt mit unterschiedlichen Verkehrmitteln:
11 Prozent der Wege werden mit Öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt. 0,35 von insgesamt 3,15 Wegen je Person pro Tag werden mit ÖPNV erledigt.
54 Prozent der Wege werden mit dem PKW zurückgelegt, das entsprechen 1,71 Wege
21 Prozent der Wege werden zu Fuß zurückgelegt, das entsprechen 0,67 Wege
13 Prozent der Wege werden mit dem Fahrrad gefahren, das entsprechen 0,40 Wege
weniger als 0,6 Prozent der Wege werden mit sonstigen Verkehrsmitteln erledigt, das entspricht 0,02 Wegen
54 Prozent mit dem PKW (1,71 Wege)
21 Prozent zu Fuß (0,67 Wege)
13 Prozent mit dem Fahrrad (0,40 Wege)
weniger als 0,6 Prozent der Wege werden mit sonstigen Verkehrsmitteln erledigt (0,02 Wegen)
80 Minuten je Person werden täglich für Mobilität aufgewandt
17 Minuten von insgesamt 80 Minuten Mobilitätszeit je Person und Tag werden mit ÖPNV zurückgelegt.
39 Minuten Mobilitätszeit mit dem PKW
15 Minuten Mobilitätszeit zu Fuß
7 Minuten werden mit dem Fahrrad gefahren
2 Minuten Mobilitätszeit mit Sonstigen Verkehrsmitteln
39 Minuten Mobilitätszeit mit dem PKW
15 Minuten Mobilitätszeit zu Fuß
7 Minuten werden mit dem Fahrrad gefahren
2 Minuten Mobilitätszeit mit Sonstigen Verkehrsmitteln
Anteile der Verkehrszeiten nach Verkehrsmitteln in Prozent
21 Prozent ÖPNV
49 Prozent Pkw
19 Prozent zu Fuß
9 Prozent mit dem Fahrrad
2 Prozent mit Sonstigen Verkehrsmitteln
49 Prozent Pkw
19 Prozent zu Fuß
9 Prozent mit dem Fahrrad
2 Prozent mit Sonstigen Verkehrsmitteln
Fazit
Die Zahlen zum Modal Split beziehungsweise Marktanteil der einzelnen Verkehrsträger zeigen die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs, also des privaten Pkws. Die Verkehrsträger des Umweltverbundes, also der Fuß- und Radverkehr sowie Bus und Bahn haben ihr Potential gerade im städtischen Bereich noch lange nicht ausgeschöpft, wobei durch das Aufkommen der Elektroräder, E-Scooter und E-Autos eine differenzierte Betrachtung notwendig wird. Ebenso sind große Unterschiede in der Nutzung der Verkehrsträger im städtischen und ländlichen Raum zu verzeichnen.
Im ländlichen Raum: Auto Teil der Lösung, nicht des Problems
Ein vielversprechendes Modell für den ländliche Raum sind autonome Verkehre, langfristig ohne Fahrpersonal und über eine Leitstelle überwacht, sowie das Modell mit ehrenamtlichen Fahrern. Während Ersteres hohe wirtschaftliche Vorteile und ein deutlich besseres Verkehrsangebot für die Zukunft erwarten lässt, können Ehrenamtsmodelle bereits heute zum Einsatz kommen. Erfolgversprechende und funktionierende Beispiele gibt es bereits, zum Beispiel in Bad Elster im Vogtlandkreis oder Arzberg im Landkreis Nordsachsen.
Für Holger Reinboth, Bürgermeister von Arzberg, ist das Modell ein finanziell tragbares und verlässliches Zusatzangebot zum regulären ÖPNV. „Das Projekt Arzberger Bürgerbus steht als tolles Beispiel dafür, was Ehrenamt leisten kann“, bekräftigt der Gemeindechef das stabile Angebot.
Auch Matthias Gather, Professor für Verkehrspolitik und Raumplanung an der Fachhochschule Erfurt, bestätigt die Bedeutung des Ehrenamts für die Organisation von Mobilität im ländlichen Raum. „Das stärkt auch die Dorfgemeinschaft und den Gemeinsinn“, so der Verkehrsexperte.
Ein gutes Rückgrat sieht Gather in einem landesweiten Taktverkehr wie in Sachsen-Anhalt, wo zumindest die wichtigen Linien von Bus oder Bahn im Stundentakt befahren werden. „Darüber hinaus können Rufbusse bis hin zu subventionierten Taxifahrten auch noch dünner besiedelte Räume anbinden – und zukünftig auch einmal autonom fahrende Shuttle.“
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Fotos: GV Arzberg, Thomas Baer, privat, Eric Kemnitz, Bertram Bölkow, Jochen Reitstätter, Adobe Stock Quelle: VDV, Statistik 2020, Deutsches Mobilitätspanel MOP Bericht 2019/2020
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