Fachkräftemangel in Sachsen: Firmen müssen für Bewerber attraktiv sein
Sachsens Arbeitsagenturchef Klaus-Peter Hansen spricht im Interview zu Lehrabbrüchen, Fachkräftemangel und ausbleibender Herbstbelebung.
von Ulrich Milde
„Investiere in die Menschen, die du hast.“ Das empfiehlt Sachsens oberster Arbeitsvermittler Klaus-Peter Hansen den Betrieben zur Bekämpfung des Fachkräftemangels.
Früher hatten wir einen Arbeitgebermarkt. Die Firmen konnten sich ihre Beschäftigten dank vieler Bewerber aussuchen. Heute handelt es sich um einen Arbeitnehmermarkt?
Eindeutig. Wir haben diese Erfahrung schon bei den Jugendlichen gemacht. Früher konkurrierten sie um einen Ausbildungsplatz mit vielen anderen Jugendlichen. Heute haben sie die Qual der Wahl, weil es deutlich mehr freie Ausbildungsstellen als Bewerber gibt.
Wie sieht das in Zahlen aus?
Vor 20 Jahren hatten wir auf 50 Arbeitslose nur eine offene Stelle. Jetzt gibt es rechnerisch für vier Arbeitslose eine offene Stelle. Das belegt, dass sich Angebot und Nachfrage aneinander angleichen, weil die Arbeitslosigkeit sinkt und die Fachkräftebedarfe steigen – in einigen Berufen gibt es sogar einen Mangel.
Woran liegt der sich abzeichnende Fachkräftemangel?
Die demografische Entwicklung schlägt voll durch. Zwei Menschen gehen in Rente, nur einer kommt auf den Arbeitsmarkt nach. Wir haben also ein enormes Defizit. Betrifft der Fachkräftemangel alle Berufe? Nein. Wenn wir mehr offene Stellen als Menschen haben, die in einem Beruf arbeitslos gemeldet sind, sprechen wir von einem Mangel.
Ein weiterer Parameter ist, wie lange die Stellen unbesetzt bleiben. Je länger, desto größer ist das Indiz des Mangels. Tatsächlich kommen jährlich Berufe hinzu. Es sind nicht mehr nur Pflegeberufe, sondern auch gewerbliche Tätigkeiten, etwa im Metall- und Elektrobereich, selbst im Handwerk. Auch bei den grünen Berufen.
Für die Betriebe wird es schwieriger, Lehrstellen zu besetzen?
Wir haben das Thema schon seit längerer Zeit. Es betrifft nicht nur die duale Ausbildung, sondern auch die schulische. Ich bin froh, dass sich immer mehr Jugendliche für eine dieser Ausbildungen interessieren, die Studierneigung hat sich nicht weiter verstärkt.
Wir haben in Sachsen im Schnitt jährlich 30.000 Abgänger von Allgemeinschulen, von denen zwei Drittel in die duale Ausbildung gehen, 10.000 in die schulische.
Aktuell arbeiten 1,65 Millionen Menschen in Sachsen sozialversicherungspflichtig. Das sind 1100 mehr als vor einem Jahr. Davon arbeitet jeder Dritte in Teilzeit.
Aktuell gibt es in Sachsen rund 34.000 offene Stellen, die in den Arbeitsagenturen und Jobcentern gemeldet sind. Das sind 5400 weniger als im Oktober 2023. Die Besonderheit dabei: Mehr als 80 Prozent sind für Fachkräfte ausgeschrieben.
Aktuell sind in Sachsen 139.600 Frauen und Männer arbeitslos gemeldet. Das sind 9000 mehr als im Oktober 2023.
Zur Person
Klaus-Peter Hansen (61) ist seit acht Jahren Vorsitzender der Geschäftsführung der in Chemnitz ansässigen Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für Arbeit. Der gebürtige Zittauer wuchs in Freiberg und Brand-Erbisdorf auf und war später beim Leuchtenbauer Narva tätig.
Seine Karriere bei der Arbeitsagentur startete er 1992 in Pirna. Nach Stationen in der Regionaldirektion und in Bautzen wurde er 2003 Chef der Agentur in Pirna, vier Jahre später rückte er an die Spitze der Agentur in Erfurt, um 2010 in die Zentrale der Bundesagentur nach Nürnberg zu wechseln.
Es folgte die Leitung des Jobcenters in Berlin-Neukölln, bevor er 2014 nach Chemnitz zurückkehrte, zunächst als operativer Geschäftsführer.
20.000 bis 25.000 Jugendliche, also ein Drittel der Abiturienten, will studieren. Das ist doch verständlich.
Ja, verständlich und nachvollziehbar. Die Arbeitslosenquote von Akademikern liegt bei 2,5 Prozent, die von Facharbeitern bei 3,7 Prozent. Bedeutet: Menschen mit einem Studium oder einer klassischen Ausbildung sind seltener arbeitslos. Die Studierneigung per se ist also nichts Falsches. Wichtig ist, dass jeder seinen Talenten und Interessen folgt – egal ob Studium oder Ausbildung.
Und bei denen, die keinen Berufsabschluss haben?
Da kommen wir auf eine Arbeitslosenquote von über 20 Prozent.
Was können die Betriebe tun, um bei Jugendlichen für Facharbeiterberufe zu werben?
Eine ganze Menge. Etwa Karrierechancen aufzeigen, also auf die Möglichkeit, den Meister zu machen. Gleichzeitig können Betriebe mit ihrem Image werben, eine tolle Mannschaft vorhalten, wo junge Leute Teil davon sein können. Weiterentwicklungsmöglichkeiten sind auch gut, um die Nachwuchskräfte für ein Unternehmen zu begeistern. Löhne, verantwortungsvolle Aufgaben und Klimarelevanz der Produkte werden auch häufig von Jugendlichen genannt.
Viele Firmen klagen, sie hätten auf ausgeschriebene Lehrstellen nicht eine einzige Bewerbung bekommen.
Die Berufsbilder sind offenkundig mal mehr, mal weniger attraktiv. So gibt es mehr Nachfragen nach Lehrstellen für den Kfz-Mechatroniker als Angebote. Andere Ausbildungsstellen werden wie Sauerbier angeboten. Es ist die Aufgabe der Wirtschaft, für ihr Angebot zu werben, welche Berufe es gibt und was deren Attraktivität ausmacht. Meine Empfehlung: Betriebe sollten auch junge Erwachsene und Leistungsschwächere für freie Ausbildungsstellen berücksichtigen. Falls es bei denen Probleme gibt, helfen wir mit finanziellen Förderangeboten – um sie fit zu machen.
Woran hapert es bei den beruflichen Ausbildungen noch?
Wenn es die Lehrstelle im gewünschten Beruf nicht in der Nähe gibt oder wenn die Berufsschule weit weg ist, kann es schwierig werden. Für den Goldschmied gibt es bundesweit eine Berufsschule, und zwar in Weimar. Für den ländlichen Raum kann die Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr eine hohe Hürde sein. Auch die Eignung spielt eine Rolle. Man kann ja der Meinung sein, man sei der beste künftige Zimmerer, aber die Firma sieht das anders. Das gilt auch umgekehrt, wenn der Betrieb nicht den Erwartungen des Auszubildenden entspricht.
Was schnell zu Ausbildungsabbrüchen führt.
Das Klima in der Firma ist der Hauptgrund bei den Abbrüchen. Jugendliche reden miteinander in der Berufsschule. Da wird erzählt, was versprochen, aber nicht gehalten wurde.
Was sollten Firmen tun, um Fachkräfte zu gewinnen und zu halten?
Ich sage: Investiere in die Menschen, die du hast. Lebenslanges Lernen, ein gutes betriebliches Klima, Wertesystem, Karrierechancen, Benefits. Das ist der Klebstoff. Es ist nicht nur der Lohn. Also: Sich als Firma attraktiv zu machen im Wettbewerb ist ganz wichtig. Mit einem schönen Werbespot kann man Neugierde erwecken. Aber am Ende muss das drinstecken, was man verspricht.
Brauchen wir eine gezielte Zuwanderung?
Ja, gesteuerte Zuwanderung von Fachkräften ist ein Lösungsraum und rechnet sich für die Gesellschaft. Wir werden einen Teil des Fachkräfteproblems nur durch Zuwanderung lösen. Nötig sind 12.000 bis 16.000 Menschen – pro Jahr! Momentan kommen wir hier nur auf dreistellige Zahlen.
Wir haben viele Flüchtlinge, machen ihnen es aber schwer, zu arbeiten.
Der Moment, ab dem ein Flüchtling einen Mehrwert für die Arbeitswelt und damit für die Gesellschaft leisten kann, ist verzögert. Fakt ist aber auch: 26.000 Geflüchtete arbeiten in Sachsen in Voll- und Teilzeit. Das sind fast 5000 mehr als vor einem Jahr. Hier zeigt sich die Bereitschaft der Unternehmen, Menschen aufgrund von Kompetenzen einzustellen, unabhängig von Hautfarbe oder Herkunft. Ohne Ausländer würde die Beschäftigung in Sachsen abnehmen, weil immer mehr Deutsche in Rente gehen.
Hinzu kommt die Sprache?
Die Sprache ist der Schlüssel zur Integration. Der ungesteuerte Zuwanderer hat ja vorher nicht unsere Sprache gelernt. Der Spracherwerb braucht Zeit. Deshalb ist der Migrations- und Integrationsprozess aus der ungesteuerten Zuwanderung deutlich länger.
Das ist eine Aufgabe für alle?
Migration ist kein staatlicher Vorgang, sondern ein Prozess von Mensch zu Mensch. Die zu uns Kommenden brauchen ihre Freizeitaktivitäten, ihre Kultur, wollen ihre Religion leben. Das bedarf Akzeptanz der Gastgeber und Vertrauensentwicklung auf beiden Seiten. Wichtig ist aber: Geltendes Recht muss respektiert werden. Wer das permanent verletzt, muss weiterziehen.
Aktuell arbeiten 135.000 Menschen mit einem ausländischen Pass in Sachsen. Das sind 12.000 mehr als vor einem Jahr. Damit liegt der Ausländeranteil an der Gesamtbeschäftigung bei 8,2 Prozent.
Fachkräfte ...
... werden vor allem in folgenden Berufen gesucht:
Klempnerei, Sanitär, Heizung, Klimatechnik
Steuerberatung
Metallbau und Schweißtechnik
Medizin-, Orthopädie- und Rehatechnik
Aus-, Trockenbau, Iso.Zimmer.Glas.Roll.bau
Bau- und Transportgeräteführung
Softwareentwicklung und Programmierung
Energietechnik
Holzbe- und -verarbeitung
Metallbearbeitung
Fahrzeugführung im Straßenverkehr
Pflegeberufe
„Die demografische Entwicklung schlägt voll durch. Zwei Menschen gehen in Rente, nur einer kommt auf den Arbeitsmarkt nach.“
Wie sehen Sie die Lage auf dem sächsischen Arbeitsmarkt?
Aktuell sind wir eher in Richtung einer Quote von sieben Prozent unterwegs als Richtung fünf.
Dabei haben Sie mal von einer vier vor dem Komma geträumt.
Geträumt nicht, erhofft schon. Wir waren im November 2019 – also vor Corona – knapp dran, mit fünf Prozent. Corona und die Kriege auf der Welt haben uns mit ihren Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft wieder zurückgeworfen. Nun gilt es, Arbeitslosigkeit abzubauen, den Menschen Erfolge zu organisieren und wirtschaftliche und globale Herausforderungen zu meistern.
Also bleibt die Herbstbelebung aus?
Davon gehen wir aus. Kaufkraft und Kosten wirken jetzt auf die Beschäftigung. Alle Unternehmen mit hohen Lohnkostenanteilen und hohen Energiekosten in der Fertigung sind unter enormem Kostendruck. Ein Teil wird weitergegeben durch den Abbau von Arbeitsplätzen.
Und die Kaufkraft?
Die Firmen spüren, dass sich das Kaufverhalten in Rezessionsphasen verändert. Es muss alles länger halten, Auto, Möbel. Oder es wird ein günstigerer Camping- statt eines All-inclusive-Urlaubs gebucht.
Aber die Beschäftigung ist doch auf einem hohen Stand.
Langfristig ja, auf aktuell dritthöchstem Niveau seit dem Jahr 2005. Seitdem sind in Sachsen 300.000 zusätzliche Jobs entstanden. Das zeigt, von wo wir herkommen. Im Moment verändert sich aber die Struktur. Denn es gibt Branchen, die in den vergangenen zwölf Monaten Tausende von neuen Jobs geschaffen haben – und es gibt andere Branchen, die tendenziell Beschäftigung wegen der wirtschaftlichen Unsicherheiten abbauen – zum Beispiel das verarbeitende Gewerbe oder auch die Zeitarbeit.
Fotos: Anja Jungnickel, Arbeitsagentur Sachsen | Grafik: Christiane Kunze | Zahlen: Bundesagentur für Arbeit/ Regionaldirektion Sachsen
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