Die guten Geister aus Taucha
Start-up wertet Daten des Einzelhandels aus und gibt Tipps und Hinweise
Von Ulrich Milde
Ein Modehändler in einer norddeutschen Stadt war irritiert. Seit mehreren Wochen sank sein Tagesumsatz deutlich. Der Kaufmann rätselte, befragte seine Angestellten, doch niemand fand eine Erklärung für den Rückgang. Da hatte der Händler eine letztlich rettende Idee. Er rief bei der Handelsgeist. GmbH in Taucha an. Gründerin und Chefin Carolin Timm ließ sich das Problem schildern und forderte ihren neuen Kunden auf, ihr die Daten der vergangenen zwölf Monate über die von den Stammkunden getätigten Einkäufe zuzusenden. Gesagt, getan. Timm analysierte die Fakten und stellte dabei fest, dass Besuche von Kunden aus einer bestimmten Postleitzahl plötzlich wie abgeschnitten waren. Ein weitere Recherche Timms ergab: Umfangreiche und langwierige Bauarbeiten an einer Bundesstraße hatten dieses Gebiet vom Einzelhändler förmlich abgeschnitten, er war nur mit einem Umweg von 20 Minuten zu erreichen.
Handelsgeist
Ein Blick hinter die Kulissen des Start-Ups
Kreative Marketing-Ideen
So weit die Analyse. Doch damit endete die Hilfestellung nicht. Handelsgeist-Mitarbeiter Thomas Hickmann, für kreative Marketing-Ideen zuständig, empfahl eine gezielte Aktion. Jeder der betreffenden Stammkunden wurde angeschrieben und erhielt die Zusage, bei einem Einkauf im Modegeschäft einen Tankgutschein über zehn Euro zu erhalten. Die Maßnahme wirkte, die Umsätze zogen wieder an und erreichten bald das alte Niveau. „Wir haben ein gezieltes Mailing empfohlen, keine großflächige Werbung“, berichtet Hickmann. Das sei für die Kunden emotional gewesen, „weil sie gespürt haben, dass das Geschäft sich mit ihnen beschäftigt hat“.
Timm erinnert sich an einen anderen Fall. Ein Modehändler wollte eine bestimmte Marke aus dem Programm werfen, weil die Jacken nur mit hohen Reduzierungen verkäuflich waren. „Auch da haben wir die Daten ausgewertet und erkannt, dass diese Marke viele junge Leute angezogen hat“, sagt Timm, eine gebürtige Delitzscherin. Folglich lautete die Empfehlung, lediglich die Jacken, nicht aber die anderen Produkte des Herstellers zu streichen.
Thomas Hickmann und Carolin Timm von der Firma Handelsgeist in Taucha
Kaum Personal für Analysen
Viele Handelsgeschäfte, so die Erfahrung von Timm, hätten nicht das Personal, um eingehende Analysen der Kunden und ihrer Einkäufe vorzunehmen. „Oft wird das nur nebenbei gemacht, aber das funktioniert nicht.“ Eine Marktlücke, die die 34-Jährige erschlossen hat – auf der Basis ihres beruflichen Werdeganges. Sie lernte Einzelhandelskauffrau, studierte später in Heilbronn an der Hochschule Betriebswirtschaftslehre. Diese wurde 2010 mit Unterstützung von Dieter Schwarz (Lidl, Kaufland) gegründet. Schwarz gilt mit einem geschätzten Vermögen von 36 Milliarden Euro als reichster Deutscher.
Nach dem Studium arbeitete Timm bei Kaufland und wechselte später zurück nach Sachsen - zum Modehaus „Mein Fischer“ in Taucha. Dort war sie im Vertrieb tätig, schaute sich intensiv die vorliegenden Daten an und erstellte Berichte. Da ging es unter anderem darum, zu ermitteln, welche Kunden schon längere Zeit nicht mehr eingekauft hatten und welche Warenbereiche stark oder schwach nachgefragt waren. „So habe ich sehr schnell meine Leidenschaft für die Datenanalyse entdeckt.“ Und erkannt, dass neben diesem Know-how auch strategisches Denken, Kreativität und Empathie erforderlich seien, um Kunden zu erreichen, zu gewinnen und zu binden.
Vor vier Jahren erhielt Timm den Anruf eines Headhunters und wechselte zu einem Modehaus in Schleswig-Holstein, dem ein innovativer Ruf vorauseilte. „Aber dort gab es keine systematische Marktbearbeitung.“ Und so reifte in Timm die Idee, sich mit ihren Fähigkeiten selbstständig zu machen, um dieses grundlegende Problem des Handels zu ihrem Geschäftsmodell zu machen. Sie verließ sie nach lediglich vier Monaten das nördlichste Bundesland wieder und gründete im November 2019 handelsgeist.
Schlechter Zeitpunkt
Im Nachhinein betrachtet zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Denn wenig später legte die Corona-Pandemie weite Teile des Handels lahm. „Da habe ich keinen Umsatz gemacht.“ Doch „jede Krise ist auch eine Chance“. Und die kam im Sommer 2020, als die Läden wieder öffnen durften. Flugs meldeten sich die ersten Händler, Timm hatte gut zu tun und holte Hickmann in ihr Unternehmen. Den 43-Jährigen kannte sie aus ihrer Zeit bei Fischer, denn dort war er 23 Jahre lang tätig, zuletzt als Marketingchef. „Unsere Stärken ergänzen sich“, sagt Timm, die durch den personellen Zugewinn nicht nur Schwächen bei ihren Kunden herausarbeitet, sondern „auch Lösungsmöglichkeiten umsetzen kann“. Obendrauf kommt die Erfolgskontrolle.
Dabei beschränkt Timm sich nicht auf Modehändler. Fahrradketten, Optiker, der Lebensmitteleinzelhandel, IT-Firmen bei B2B-Geschäften haben bereits ihre Dienste in Anspruch genommen. Diese Expansion hat dazu beigetragen, „dass wir seit 2022 schwarze Zahlen schreiben“. Und die Aussichten beurteilt sie als gut: „Das Potenzial ist riesig.“ Zumal sie sich inzwischen auch die Weiterbildung von Handelsmitarbeitern auf ihre Fahnen geschrieben hat und Laufleute bei der Einführung von Kunden-Apps unterstützt.
Gute Chancen für Läden vor Ort
Trotz aller Zuwächse speziell im Online-Handel billigen die beiden Fachleute auch den Geschäften vor Ort gute Chancen zu. Letzterer könne mit kompetenter Beratung punkten. Etwa, und da kommt bei Hickmann die Mode-Vergangenheit durch, wenn für den Abi-Ball der erste Anzug gekauft werde. „Ich glaube ganz fest an den stationären Handel“, ergänzt Timm. Schließlich gehe es auch darum, dass Menschen anderen Menschen begegnen wollten – auch beim Shopping.
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