Einzelhandel in Sachsen fürchtet steigende Kosten
Joachim Otto, Präsident des sächsischen Handelsverbands und René Glaser, Hauptgeschäftsführer, fordern von der Politik mehr Verlässlichkeit.
Von Ulrich Milde
Die Ertragslage im sächsischen Einzelhandel ist fragil. „Die Kosten werden stärker steigen als die realen Umsätze“, befürchtet Verbandspräsident Joachim Otto (63). Sein Hauptgeschäftsführer René Glaser (48) kritisiert komplizierte Förderprogramme.
Herr Otto, Sie sind froh, dass 2024 ein Schaltjahr ist?
Otto: Sie meinen, weil das einen Tag mehr Umsatz für den Handel bedeutet?
Nein, weil Sie dann einen Tag mehr Ihren Lieblingssong intonieren können: Klagen ist des Kaufmanns Lied. Dabei ist im vorigen Jahr der Einzelhandelsumsatz bundesweit von 632 auf 650 Milliarden Euro gestiegen.
Otto: Klagen bei mehr Umsatz – das scheint sich zu widersprechen. Die Mehrumsätze sind jedoch getrieben durch Preissteigerungen bei Personal, Energie, Mieten, Lieferantenausgaben. Die Kosten fressen uns auf. Sie machen bei immer kleiner werdenden Margen einen großen Faktor aus.
Glaser: Real ist der Umsatz im vorigen Jahr um rund 3,5 Prozent gesunken. Nicht zu vergessen: Die Corona-Krise war für den Non-Food-Einzelhandel unheimlich schwer und wird noch lange Zeit nachwirken. Wenn man von einer Krise in die nächste kommt, wird man zudem immer anfälliger, die Krisenresilienz lässt nach.
„In Deutschland ist der Konkurrenzkampf am härtesten. Wer hier überlebt, überlebt überall in Europa.“
Joachim Otto, Präsident Handelsverband Sachsen e.V.
Wie hat sich Corona, abgesehen von fehlenden Umsätzen, noch ausgewirkt?
Glaser: Es wurden Eigenkapitalreserven aufgebraucht, neue Kredite waren nötig, die nun zurückgezahlt werden müssen – neben den Corona-Hilfen.
Otto: Alle anderen Bundesländer hatten während der Pandemie Zuschüsse gegeben, nur Sachsen nicht. Hier gab es Kredite. Der Einzelhändler in Sachsen hat sich schlechter behandelt gefühlt. Und das bei einer historisch bedingt niedrigeren Eigenkapitalquote als im Westen.
Drohen Schließungen?
Otto: Wenn ein Geschäft schließt, wird das nicht so wahrgenommen, als wenn ein Industriebetrieb mit mehreren hundert Beschäftigten vor dem Aus steht. Der Prozess, dass Läden dicht gemacht werden, passiert und summiert sich. Der Einzelhandel ist mit 11. 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten der zweitgrößte Wirtschaftszweig in Sachsen.
Glaser: Während der Corona-Zeit von 2020 bis 2022 mussten deutschlandweit 40. 000 Standorte aufgeben. Darunter sind ungefähr 1500 in Sachsen. Der Einzelhandel stirbt leise. Ein Großteil der Unternehmen, die aufgeben, beantragt keine Insolvenz, sondern macht einfach zu. Wenn die Rahmenbedingungen sich nicht ändern, setzt sich dieser Trend fort.
Otto: Wir befürchten, dass bundesweit in diesem Jahr weitere 5000 Geschäfte schließen. Das wären über 200 in Sachsen.
Welche Rahmenbedingungen meinen Sie?
Otto: Etwa die Energiepreisbremse, die nicht für uns gelten soll. Wir haben gefordert, dass auch der Einzelhandel einbezogen werden sollte. Die Kühlung für Lebensmittel etwa verursacht hohe Stromkosten. Wir fanden die Aussage des Bundeskanzlers zynisch, dass den Branchen, die nicht ins Ausland verlagern können, nicht geholfen werden müsse.
Glaser: Wir sind beim Konsumbarometer noch nicht wieder auf dem Vor-Corona-Niveau. Die Anschaffungsneigung der Verbraucher ist relativ gering. Die Konsumstimmung der Verbraucher hängt auch mit einer verlässlichen oder eben nicht verlässlichen Politik und Planbarkeit zusammen. Das Problem ist: Keiner weiß, wo die Reise hingeht, der Verbraucher ist verunsichert.
Es scheint Besserung in Sicht zu sein. Ihre Branche erwartet für 2024 real ein Plus von einem Prozent.
Otto: Aber die Kosten werden stärker steigen als die realen Umsätze. Folglich wird die Ertragslage fragiler.
Glaser: Real ein Prozent ist vergleichsweise wenig. Wir alle legen darüber hinaus viel Wert auf den inhabergeführten Facheinzelhandel in unseren Städten. Er ist das Salz in der Suppe. Sein Anteil sinkt leider permanent, er dürfte 2024 auf 13 Prozent zurückgehen. Das ist ein absolutes Alarmzeichen.
Otto: Generell gilt: Wir haben einen immens harten Wettbewerb bei hoher Preissensibilität. In Deutschland ist der Konkurrenzkampf am härtesten. Wer hier überlebt, überlebt überall in Europa. Die Margen im Lebensmitteleinzelhandel sind sehr gering.
René Glaser
Sachsens Einzelhandel in Zahlen
Im Freistaat gibt es 13. 000 Einzelhandelsunternehmen mit zusammen 20 .000 Standorten. Mit 113. 000 Beschäftigten ist der Handel der zweitgrößte Arbeitgeber. Der Jahresumsatz liegt bei 27 Milliarden Euro, das bedeutet Platz drei unter allen Branchen. Es gibt täglich zwei Millionen Kundenkontakte.
67 Prozent der Mitarbeitenden sind Frauen. Dabei ist der Handel vergleichsweise jung. Fast die Hälfte aller Beschäftigten sind jünger als 40 Jahre. Ausgebildet wird in 60 Berufen. Gut 80 Prozent der Führungskräfte haben ihre Laufbahn mit einer Lehre im Einzelhandel begonnen.
Unternehmen
Standorte
Beschäftigte
Ist die Marktmacht der Hersteller zu groß?
Glaser: Die verarbeitende Ernährungsindustrie hat schon eine entsprechende Marktmacht. Da können manche Einzelhändler bei den geforderten Preisen nicht mehr mitgehen.
Es heißt, die Lebensmittelpreise in Deutschland sind europaweit sehr niedrig. Beuten Sie die Landwirtschaft aus?
Glaser: Es bestehen kaum direkte Beziehungen zwischen Handel und Landwirtschaft. Es ist fast immer die Ernährungswirtschaft dazwischen. Der Einzelhandel drückt den Bauern keine Preise auf.
Joachim Otto
Die stationären Geschäfte haben mit dem Onlinehandel zu kämpfen. Dessen Umsatz reduzierte sich im vorigen Jahr um zwölf Prozent auf 80 Milliarden Euro. Ist der Höhepunkt überschritten?
Otto: Es gibt keine strikte Trennung zwischen stationärem Einzelhandel und Online mehr. Viele Einzelhändler setzen auf Multi-Channel, haben auch einen Onlineshop. Aber es dauert, bis er profitabel ist.
Glaser: Die Grenzen verschwimmen. Deshalb wäre es schwierig zu behaupten, der Höhepunkt sei überschritten.
Die Innenstädte gerade kleiner Kommunen sind häufig durch hohen Leerstand geprägt. Ist hier ein Schulterschluss des Handels mit der Kommunalpolitik nötig?
Otto: Das ist ganz wichtig. Der Händler braucht die City nicht unbedingt, er könnte seine Umsätze auch im Einkaufscenter machen. Die Innenstadt braucht den Händler. Unser Ziel ist, die Attraktivität der Innenstädte zu erhalten. Die Politik muss sich um ihre Innenstädte kümmern, die Aufenthaltsqualität erhöhen. Der Einzelhandel macht da gerne mit. Er investiert ständig, um das Einkaufserlebnis zu erhöhen. Modernität, Wohlfühlen spielen eine große Rolle, aber auch Verkehrskonzepte mit Augenmaß.
Glaser: Den Schulterschluss braucht es definitiv. Mit Blick auf die Bundes- und Landesebene brauchen wir weniger eine Politik der betroffenen Gesichter, sondern eine klare und verlässliche Zukunftsorientierung.
Otto: Was wir nicht benötigen, ist Mitleid seitens der Politiker, schon aber Unterstützung.
Sondern?
Otto: Wir brauchen weniger Bürokratie auch bei den Förderprogrammen. Sie müssen praktikabel und umsetzbar sein, gerade für kleinere Unternehmen.
Glaser: Wir erleben, dass die Förderinstrumente zu kompliziert sind, zu viele Nachweispflichten haben. Nötig sind barrierearme Instrumente, die schnell wirken und bei den Unternehmen ankommen und nicht überbordet werden mit Bürokratie.
Otto: Generell ist die Zeit reif für eine positive Wahrnehmung des Unternehmertums. Da haben uns zum Beispiel die Bayern einiges voraus.
Glaser: Wir haben viele Marktaustritte, weil das Eigenkapital nicht mehr reicht oder kein Nachfolger vorhanden ist. Das Bild des Unternehmers muss wieder besser werden, hier brauchen wir mehr Wertschätzung. Ohne diese sinkt die Lust, einen Betrieb zu übernehmen.
„Während der Corona-Zeit von 2020 bis 2022 mussten deutschlandweit 40.000 Standorte aufgeben. Darunter sind ungefähr 1500 in Sachsen."
René Glaser, Hauptgeschäftsführer Handelsverband Sachsen e.V.
Worin liegt der Reiz, selbstständiger Einzelhändler zu werden?
Glaser: Wir sind nah am Menschen, haben täglich Kundenkontakt. Und es handelt sich um eine innovative Branche, die sich täglich verändert. Kauffrau oder Kaufmann im Einzelhandel liegen bei den Berufswünschen künftiger Auszubildender ganz vorne. Die jungen Menschen wissen, es ist eine tolle, abwechslungsreiche Branche, die viele Aufstiegsmöglichkeiten bietet.
Otto: Die Motivation, viel Geld zu verdienen, darf nicht an erster Stelle stehen. Dann muss man vielleicht lieber Banker werden. Es muss Spaß machen, kreativ und flexibel zu sein, mit Menschen zu arbeiten.
Und das macht es Ihnen nach wie vor?
Otto: Ganz klar ja.
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Fotos: Ullrich Milde, André Kempner
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