Nachhaltigkeit in der Chemie
Wie das Großforschungszentrum in Delitzsch neue Wege gehen will
Von Ulrich Milde
Die Chemiebranche „steht vor einer industriellen Revolution“ – und die Weichen dafür werden in Delitzsch gestellt. Davon geht zumindest Peter H. Seeberger aus. Der Potsdamer Professor ist mit seinem Konzept maßgeblich dafür verantwortlich, dass in der Kreisstadt im Norden von Leipzig das Groß-forschungszentrum „Center for the Transformation of Chemistry“ (CTC) errichtet wird.
Nach Ansicht von Seeberger muss der Umbau der Chemie- und Pharmaindustrie auch dringend erfolgen. „Sie sind die Hauptverbraucher von fossilen Rohstoffen“ – als Energiequelle und als Basismaterial für die Produkte. Das CTC soll dazu beitragen, dass die Branche die Transformation hin zu einer Kreislaufwirtschaft schaffen kann.
„Wenn die Chemieindustrie bei uns Bestand haben will, können wir nicht sagen, wir outsourcen unseren Dreck, also Abfälle und andere Emissionen, nach Asien und lassen dort mit den althergebrachten Prozessen produzieren.“ Folglich „müssen wir neue Ausgangsmaterialien nutzen und diese in neuen Prozessen zu Produkten umwandeln“. Das bedeutet, auf nachwachsende Rohstoffe und die Kreislaufwirtschaft zu setzen. Anders formuliert: Ein komplexes System, das sich in mehr als 170 Jahren entwickelt hat und 41 000 Chemieprodukte herstellt, muss (fast) komplett neu erdacht werden.
„97 Prozent aller Produkte, die wir konsumieren, sind entweder chemisch hergestellt oder chemisch behandelt.“
Peter H. Seeberger, Projekt-Initiator CTC
Produktiver Wirtschaftszweig
Seeberger verweist auf Zahlen der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE): Die chemische Industrie habe in der Bundesrepublik 580. 000 Beschäftigte, darunter 41. 000 in der mitteldeutschen Region. „97 Prozent aller Produkte, die wir konsumieren, sind entweder chemisch hergestellt oder chemisch behandelt“, sagt er.
Obendrauf komme, dass Investitionen weitere Investitionen „anziehen“. In der Chemiebranche löst 1 Euro an Investitionen statistisch gesehen 40 Euro zusätzliche Investitionen aus. In der Automobilindustrie ist zwar die Gesamthöhe an Investitionen höher, der „Investitionshebel“ beträgt da aber nur den Faktor 10.
Die Transformation „wird eine völlige Änderung der Geschäftsmodelle der chemischen Industrie und ihrer Zulieferer nach sich ziehen“, meint der Wissenschaftler. Bereits jetzt werden Abfälle aus der Zellstoffproduktion als Polymerersatz genutzt, dies wird sich in Zukunft massiv ausweiten. Anstelle von Pipelines wird die Eisenbahn genutzt werden.
Andere Prozesse werden neue Dienstleister hervorbringen, um die nötigen neuen Anlagen zu bauen und zu warten. Diese Umstellung ist eine Generationenaufgabe, die Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. „Deshalb werden wir im CTC auch nie fertig mit der Arbeit, Prozesse nachhaltig zu optimieren, damit wir unseren Planeten weiter bewohnen können.“
Das Center for the Transformation of Chemistry - Film in voller Länge mit Rendering des CTC-Delitzsch
Visualisierung des Entwurfskonzepts zur Etablierung des CTC auf dem Gelände der ehemaligen Zuckerfabrik in Delitzsch.
Müll als Wertstoff nutzen
Ein großes Augenmerk auch im CTC will Seeberger auf die Kreislaufwirtschaft legen. „Das wird ein Kernbereich unserer Arbeit.“ Es müsse erreicht werden, Müll nicht mehr überwiegend zu verbrennen, sondern als Wertstoff zu nutzen. Das gelte auch für Chemikalien, die sich im Abwasser befinden. Gegenwärtig würden null Prozent des Lithiums, das unter anderem in Mobiltelefonen verwendet wird, recycelt. „Das müssen wir ändern.“ Auch die Flügel ausrangierter Windräder müssten künftig recycelbar werden. Große Aufgaben also für das CTC.
Werthaltige Arbeitsplätze
Am 1. Januar 2026, so die bisherigen Planungen, soll es mit dem Bau des Gebäudes auf dem Gelände der alten Zuckerfabrik losgehen. „Uns liegt sehr viel daran, schneller zu sein“, drückt Seeberger aufs Tempo. Das CTC gehört zu den Strukturwandelprojekten in Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der Braunkohle.
Der Bund investiert 1,2 Milliarden Euro und fördert danach den Betrieb gemeinsam mit dem Land mit 170 Millionen Euro jährlich. Entstehen sollen 1000 Arbeitsplätze, davon ein gutes Drittel in Sachsen-Anhalt, wahrscheinlich am Chemiestandort Leuna. Und es würden nicht alles Forschende sein. „In unserem Konzept geht es auch darum, Nicht-Akademiker durch Weiterbildung und Ausbildung an uns zu binden“, verspricht Seeberger.
„Das CTC wird von zentraler Bedeutung für Delitzsch und den Mitteldeutschen Raum sein. Die Stadt wird Forschungsstandort in der Metropolregion Mitteldeutschland.
In 15 Jahren ist aus einem industriellen Altstandort ein innovatives Forschungszentrum entstanden, wo nicht nur industrielle Spitzenforschung, sondern auch der akade-mische Mittelbau teilhaben kann. Aus dem CTC heraus wird es weitere Ausgründungen von Instituten geben.“
Manfred Wilde, Oberbürgermeister Delitzsch
„Die Chemie als Kreislaufwirtschaft neu zu denken, verspricht völlig neue Geschäftsmodelle und Innovationen, die wiederum neue Wertschöpfungen und Arbeitsplätze entstehen lassen. Das Großforschungszentrum wird der Schlüssel zu einem erfolgreichen Strukturwandel im gesamten Mitteldeutschen Braunkohle-revier sein. Und es wird von Nordsachsen aus einen der wichtigsten Industriezweige nachhaltig verändern.“
Kai Emanuel, Landrat Nordsachsen
Im harten internationalen Wettbewerb kann speziell die ostdeutsche Chemie, die bislang nur 1 Prozent der deutschen Chemiepatente hervorbringt, nach seiner Auffassung nur dann bestehen, „wenn sie forschungsstärker wird“. Das schaffe langfristig werthaltige Industriearbeitsplätze mit möglichst weltmarktfähigen Produkten, mit Exportschlagern. Die mit Hilfe des Großforschungszentrums entwickelten Verfahren könnten Vorbild für die ganze Welt sein.
Der Max-Planck-Direktor rechnet damit, dass sich rund um das CTC Firmen ansiedeln und es Ausgründungen geben werde. „Ich habe positive Signale aus der chemischen und pharmazeutischen Industrie erhalten. Sie sehen das Zentrum als große Chance und würden gerne Mitarbeiter neben uns ansiedeln. Ich bin zuversichtlich, dass das in drei bis fünf Jahren nach Inbetriebnahme des CTC auch passiert.“ Aber, „ich bin kein Freund davon, jetzt schon Zahlen zu versprechen“.
Großforschungszentren können Regionen nach oben katapultieren
Die ostdeutsche Forschungslandschaft wird sich „massiv verändern“. Das meint zumindest Thorsten Posselt. Der Leiter des Fraunhofer-Zentrums für Internationales Management und Wissensökonomie (IMW) in Leipzig begründet seine Einschätzung mit den beiden Großforschungszentren, die in Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der Kohle in Ostdeutschland entstehen werden.
Delitzsch erhält das „Center for the Transformation of Chemistry“ (CTC), in der sächsischen Lausitz wird das „Deutsche Zentrum für Astrophysik“ angesiedelt. Letzteres soll dazu beitragen, mit modernen Technologien das Weltall zu verstehen. Unter anderem ist geplant, riesige Datenströme von Großteleskopen zu bündeln und zu verarbeiten.
Beide Einrichtungen hätten das Zeug, „völlig neue Innovationen zu generieren, die perspektivisch zu Anwendungen und damit attraktiv für die Ansiedlung von Unternehmen werden“, sagt dazu Sachsens Wissenschaftsminister Sebastian Gemkow. In beiden Zentren „liegt erhebliches Wertschöpfungspotenzial“, betont Posselt und denkt dabei neben Ansiedlungen auch an Ausgründungen sowie den internationalen Austausch. Es bestehe so die Chance, die beiden Regionen „nach oben zu katapultieren“.
Das CTC passe gut nach Delitzsch. Schließlich gebe es dort wegen der Nähe zu den Chemiestandorten Bitterfeld und Leuna „eine hohe Identifikation“ mit dieser Branche. Zudem habe die Chemieindustrie – sie ist in Deutschland hinter der Automobilwirtschaft und dem Maschinenbau die Nummer drei – eine enorme Bedeutung. Auch weltweit spiele sie eine große Rolle. Unter den zehn größten Chemiekonzernen seien mit BASF, Bayer, Henkel und Covestro gleich vier aus der Bundesrepublik. Posselt kündigt an, dass sein Institut sich hier einbringen hier wolle. „Wir würden gerne kooperieren“, so der Wirtschaftsprofessor.
Das IMW erforscht und entwickelt Strategien, Strukturen, Prozesse und Instrumente für den Transfer von Wissen und Technologien zwischen Organisationen, das Umsetzen von Wissen in Innovationen und das Verstehen und Gestalten der zugehörigen Rahmenbedingungen. Das CTC wird nach Ansicht von Posselt zur Entstehung einer lokalen Wissensgemeinschaft führen.
Auf dem Gelände der ehemaligen Zuckerfabrik in Delitzsch soll das Großforschungszentrum entstehen.
So soll das neue Großforschungszentrum aussehen.
Chemie-Professor Peter Seeberger, der Kopf hinter dem CTC, ist für die Zusammenarbeit offen. „Wir wollen nicht wie ein Ufo auf der grünen Wiese landen.“ Es werde wichtig sein, mit hiesigen Hochschulen und Forschungseinrichtungen zusammenzuarbeiten. „Je größer das System ist, das wir hier hochbringen, desto mehr werden alle davon profitieren.“ Die Großforschungszentren dürften nach Posselts Einschätzung einen Beitrag dazu leisten, dass die noch immer vorhandene ökonomische Ost-West-Schere kleiner wird.
Für hiesige Firmen bestehe die Chance, mithilfe der Forschungsergebnisse des CTC zu wachsen. Langfristig müsse es das Ziel sein, große Familienunternehmen zu formen. Diese hätten „einen ganz anderen Zugang zu ihrer Region“ als Konzerne, die weit weg ihren Sitz hätten, den Osten vor allem als verlängerte Werkbank benutzten.
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Fotos: Ulrich Milde, Fotostudio Yvonn, Peter Sack, Andrè Kempner, HDR Germany | Videos: Adobe Stock/chokniti, Center for the Transformation of Chemistry (CTC), MediaPort GmbH
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